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Es war ein Konzert, das ich mit meiner Band an einem Sonntagabend gab: Wir spielten mein bunt-gemischtes Repertoire, das hauptsächlich aus brasilianische Musik, also Latin Jazz-Songs bestand. Ausgerechnet bei der Interpretation eines brandneuen Songs, Águas de Março erlebte ich einen dieser seltenen und ganz besonderen Momente, um die sich jeder Musiker bemüht. Stets geht es nämlich darum, in die Essenz eines jeweiligen Songs einzutauchen und genau diese Quintessenz zum Ausdruck zu bringen. Das Ziel für mich persönlich, ist den Zuhörer auch atmosphärisch auf eine musikalische und emotionale Reise mitzunehmen. Manchmal gelingt es, manchmal aber auch nicht. In diesem Fall gelang es mir mich nicht nur mit dem Song zu verbinden, sondern mich von dem Song auf eine Reise mitnehmen zu lassen – mich förmlich in seine tiefen Gewässer mitreißen zu lassen.
Der Song Águas de Março (englisch, Waters of March) war der Wunsch eines Freundes und Jazzliebhabers gewesen, nachdem er eine meiner früheren Konzerte besucht hatte. Er reichte mir eine CD mit einer bezaubernden Version von Art Garfunkel von seinem Album Breakaway von 1975. Also legte ich los und hörte mir nicht nur seine Version an, sondern auch das Original des brasilianischen Songwriters Antônio Carlos Jobim und einige andere von zeitgenössischen Jazzkünstler*innen wie Cassandra Wilson und Stacey Kent. Wie viele vor und nach mir, verliebte auch ich mich sofort in den Fluss des Songs in Kombination mit einem so interessanten Text. Er hatte Recht. Das Stück passte perfekt zu meinem Ipanema Lounge Project, eine Band, die ich erst kürzlich gegründet hatte und deren Musikrichtung von Jobim inspiriert worden war. Daher kommt auch das Wort Ipanema (aka Girl form Ipanema) im Titel. Ich begann, tiefer in Jobim’s Katalog zu schauen und mit einigen der Songs zu spielen.
Waters of March in Fünf Sprachen
Águas de Março erschien erstmals 1972. Jobim schrieb den Originaltext auf Portugiesisch, eine zweite Version folgte ein Jahr später auf Englisch. Zur gleichen Zeit, 1973, kam eine französische Fassung, Les Eaux de Mars, heraus, die der französische Songwriter Georges Moustaki getextet hatte. Eine italienische Version, La Pioggia di Marzo, folgte im selben Jahr geschrieben von Giorgio Calabrese, einem italienischen Songwriter und ein häufiger Kollaborateur des französischen Popmusik-Stars Charles Aznavour. Erst Jahre später folgte eine weitere Adaption mit dem Titel Solen i maj, die 2007 von Anders Lundin auf Schwedisch geschrieben wurde. Die spanisch-französische Singer-Songwriterin Sole Giménez verfasste 2009 eine Version auf Spanisch mit dem Titel Aguas de marzo.
Waters of March – Bester brasilianischer Song aller Zeiten
Fast 30 Jahre später führte Brasiliens führende Tageszeitung Folha de São Paulo eine Umfrage durch, an der mehr als 200 brasilianische Journalisten, Musiker und andere Künstler teilnahmen. Folglich wurde im Jahr 2001 Waters of March zum besten brasilianischen Song aller Zeiten gewählt. Die nachhaltige Wirkung von Águas de Março wird auch in den Atlantic-Notes erörtert, einschließlich Vorschlägen, Kommentaren und Videos von vielen Lesern. Nachdem ich mir viele dieser Versionen angehört hatte, verstand ich sofort, dass es in der Tat ein sehr magisches und philosophisches Lied ist. Aber je mehr ich hörte, desto unmöglicher schien es, den Text für eine Live-Performance auswendig zu lernen…
Für Jobim war Songwriting wie Psychotherapie
Weder in der englischen, noch in der portugiesischen oder französischen Version sind die Worte so aufgebaut, dass sie eine logische Erzählung ergeben. Zudem gibt es keine erkennbaren Strophenmuster oder nachvollziehbare Reime. Die Song-Texte bestehen aus Aneinanderreihungen freier Assoziationen, aus einzelnen Objekten, die aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgebrochen und wie in einer Collage zusammengesetzt sind – und da sie in Bewegung sind, ergeben sie wörtlich, bildlich und musikalisch eine Montage. Der Komponist und Gitarrist Oscar Castro-Neves erinnerte sich, dass Jobim ihm sagte, Schreiben in dieser Art von Bewusstseinsstrom sei seine Version der Therapie und habe ihm Tausende von Psychoanalyse-Rechnungen erspart. Tatsächlich war es der Psychoanalytiker Sigmund Freud gewesen, der die Technik der “freien Assoziation” Ende des 19. Jahrhunderts als klinische Methode für seine Patienten in der Psychoanalyse entwickelt hatte.
Fast jede Zeile beginnt auf Portugiesisch mit “É…” (“[It] is…”) und im Englischen mit “a”. “Es” ist ein Stock, ein Stein, ein Glassplitter, ein Kratzer, eine Klippe, ein Knoten im Holz, ein Fisch, eine Stecknadel, das Ende der Straße und viele andere Dinge. Es erinnerte mich sehr an “l’object trouvé” aus der kubistischen Collage-Bewegung von Picasso und Duchamp von 1912-1913. Auch deshalb weil diese Gegenstände meist häusliche oder alltägliche Dinge wie Weingläser, Flaschen, Tassen und Visitenkarten sind. Allerdings wurde im Kubismus “l’object trouvé” entweder völlig aus dem Zusammenhang gerissen dargestellt oder dazu benutzt, eine neue Umgebung zu assemblieren.
In Waters of March ist es die Umgebung, die durch den Sturm und die sprudelnden Wasser zerlegt wird und deren Fragmente und Bruchstücke zum Vorschein gebracht werden.
Der Einfluss der Dichtkunst auf Jobim’s Songwriting
Die Songtexte ließen mich auch an eines der prominentesten Gedichte des 20. Jahrhunderts denken, Das wüste Land (The Waste Land) von T. S. Eliot aus dem Jahr 1922. Nicht nur die Form des Gedichts ist ähnlich obskur und untraditionell – The Waste Land hat viele Wechsel des Sprechers, des Ortes und der Zeit -, sondern besonders die berühmte erste Zeile “April is the cruelest month” beschwört leicht Jobims ungewöhnlich anmutende Darstellung des März als einer zerstörerischen und grausamen Zeit. Der Einfluss ist nicht verwunderlich, denn Jobim war in der Tat ein begeisterter Leser von Gedichten von Rimbaud, Baudelaire, Bandeira und Eliot, von denen er viele auswendig rezitieren konnte.
In der südlichen Hemisphäre ist der März der regenreichste Monat des Jahres, was Jobims anfängliche Inspiration für Águas de Março war. Er soll auf dem Weg zu seiner Familienranch im Bundesstaat Rio de Janeiro gewesen sein, als ein unablässiger Regensturm die Straßen und die Landschaft in Schlamm verwandelte – “It’s the mud, it’s the mud…”. Der März repräsentiert das Ende des Sommers und den Beginn der kälteren Jahreszeit. In einem Artikel mit dem Titel “Brazil: Waters of March (Brasilien: Wasser des Märzes)”, beschreibt der Autor, ein Auslandskorrespondent des Mediennetzwerks Al Jazeera, den Regen als
In the Southern hemisphere, March is the rainiest month of the year, which was Jobim’s initial inspiration for Águas de Março. He is said to have been travelling to his family rancho, in Rio de Janeiro state when a steady rainstorm turned the roads and landscape to mud – “It’s the mud, it’s the mud…”. March represents the end of summer and the beginning of the colder season. In an article titled “Brazil: Waters of March“, the author, a foreign correspondent for the Al Jazeera media network, describes the rain as
“…dick und trüb, er fällt in gewellten Scheiben. Wasser. So grob, dass es undurchsichtig ist. Nichts als grau. Und braun. Und noch mehr grau. Es ist März in Rio.”
Besonders im Bundesstaat Rio de Janeiro ist das Wetter typischerweise von plötzlichen Unwettern mit heftigen Regenfällen und starken Winden gekennzeichnet. An vielen Orten kann das zu heftigen Überschwemmungen und Erdrutschen führen, bei denen manchmal sogar Menschen ums Leben kommen. Der Text der portugiesischen Version spiegelt daher auch diesen ganz reellen Verlust und die Verwüstung wider.
Ebenfalls eine eher zerstörerische Interpretation des Frühlings liefert ein anderes bahnbrechendes Stück, das mir in den Sinn kommt: Igor Strawinskis berühmtes Ballett- und Orchester-Konzertwerk The Rite of Spring aus dem Jahr 1913, das zu seiner Zeit so provokant war, dass es bei seiner Uraufführung einen Aufstand auslöste. Es war in ähnlicher Weise ein Werk ohne spezifische Handlung oder Erzählung, bestehend aus einer Abfolge von choreographierten Episoden. Strawinsky selbst beschrieb Das Frühlingsritual als “ein musikalisch-choreographisches Werk, [das] das heidnische Russland [repräsentiert] […], vereint durch eine einzige Idee: das Geheimnis und die große Woge der schöpferischen Kraft des Frühlings”.
Der Englische Songtext
Mit dem Ziel, der englischen Version eine lebensbejahendere und universellere Ausrichtung zu geben, änderte Jobim einige Elemente. Bereits in den frühen 60er Jahren wurde seine Musik bereits weltweit gespielt. Er ließ deshalb absichtlich spezifische Verweise auf die brasilianische Kultur (festa da cumeeira, garrafa de cana), auf ihre Flora (peroba do campo) und Folklore (Matita Pereira) weg. So hat er sich ganz bewusst einen Zuhörer aus der nördlichen Hemisphäre vor Augen gehalten und stellte den März als den Monat dar, der den Beginn des Frühlings markiert, ein Erwachen. Das Wasser stammt von der Schneeschmelze, dem Tauwetter, und nicht von den sintflutartigen Regenfällen, von denen im Original die Rede ist.
Obwohl beide Versionen von “the promise of life” (der Verheißung des Lebens) sprechen, lässt die englische Version diese anderen, positiveren Interpretationen zu. Sie enthält die zusätzlichen Phrasen wie “the joy in your heart (die Freude in deinem Herzen) und “the promise of spring” (das Versprechen des Frühlings), ein saisonaler Bezug, der für den Großteil der englischsprachigen Welt bedeutsamer sein dürfte.
Sowohl der Text als auch die Musik haben eine konstante absteigende Progression, ähnlich wie das Wasser, das von den Regenfällen in den Rinnen fließt, die typischerweise Stöcke, Steine, Glasscherben und fast alles andere mit sich führen. Die Orchestrierung erzeugt die Illusion des konstanten Abstiegs der Noten, ähnlich wie Shepard-Skala – eine Illusion, die klanglich das tut, was die altmodische, rot-weiße Barbershop-Stange visuell macht, nur andersherum, nämlich scheinbar ewig aufzusteigen.
Wenn man sich eine Originalpartitur von Jobim anschaut, wird deutlich, dass er die Intonation akribisch festgelegt hat. Viele Komponisten hingegen notieren die Akkordsymbole und die Melodie überlassen die Interpretation und damit die Intonation dem Musiker.
Wenn man sich eine Originalpartitur von Jobim anschaut, wird deutlich, dass er die Intonation akribisch festgelegt hat. Viele Komponisten hingegen notieren die Akkordsymbole und die Melodie überlassen die Interpretation und damit die Intonation dem Musiker.
Meine Interpretation des Liedes
Es gelang mir doch, den Songtext auswendig zu lernen aber kurz vor meiner ersten Aufführung des Liedes war ich doch ziemlich nervös. Natürlich wollte ich dem Song in erster Linie gerecht werden. Das heißt, ich wollte diese gleitenden Kaleidoskop-Bilder sowohl textlich als auch musikalisch vermitteln können. Auch wollte ich in der Lage sein, die Ambivalenz zwischen Spannung und Fluss ohne Überdramatisierung zu kommunizieren. Natürlich ist das Stück Waters of March eine Herausforderung für jeden Sänger. Niemand will bei der Aufzählung dieser scheinbar endlosen und zusammenhangslosen Objekte monoton klingen. Denn schließlich kommt es auch nicht so sehr auf die Bedeutung der einzelnen Worte an – die laut Freud ohnehin in jedem von uns variieren würde –, sondern vielmehr auf die Klänge, die sie, wie ein Percussion-Instrument im Kontext mit der Musik erzeugen.
Mein musikalischer Leiter und Gitarrist Greg Porée und ich hatten an unserem eigenen Arrangement des Songs gearbeitet. Er begann mit einem sehr einzigartigen und kreativen Gitarren-Lick (das auch auf der Aufnahme zu hören ist), das Klavier setzte ein und auf dem Groove von Bass und Percussion reitend, begann ich, diese Textzeilen zu singen. Schon bald spürte ich, wie sich die Emotionen in mir aufbauten, und plötzlich wurde mir klar, dass ich die universelle Bedeutung des Liedes verstanden hatte: Ob auf Portugiesisch oder Englisch, durch mich strömten all diese “Dinge”, ein Stock, ein Stein, ein Glassplitter. Ich channelte Metaphern und Symbole des Lebens, die in immer neuen Konstellationen vorbeiflossen, jedes mit seiner eigenen Geschichte beladen – wie in der Zeile “and the river bank talks of the waters of March” (und die Flussufern sprechen von den Wassern des März), Ereignisse in der Vergangenheit und Verheißungen von Dingen, die kommen werden. Plötzlich fühlte sich für mich auch die englische Version nicht mehr wie ein ruhig dahinfließender Bach an, sondern wie ein Sturzbach.
Ähnlich wie bei Strawinsky’s “Rite of Spring” war auch die englische Version keine pastorale, Beethoven- oder Schubertsche Vorstellung vom Frühling, sondern eine explosive. Demnach gibt es ohne Schmerz keine Freude. Ohne Zerstörung gibt es keinen Anfang. Ob es das Ende eines Zyklus ist oder der Beginn eines Zyklus, ein Zyklus bedeutet Leben: Egal wie, ein Anfang impliziert ein Ende und ein Ende impliziert einen Anfang von etwas Neuem, das unweigerlich kommen wird. Das waren Metaphern für Ereignisse und Situationen, die chaotisch, überraschend, manchmal verheerend sind. Ich fühlte mich sehr lebendig und das war für mich in diesem Moment “die Freude in meinem Herzen”.
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UPDATE ein paar Jahre später, am Samstag, den 10. September 2016:
Seit ich diesen Blogbeitrag 2013 zum ersten Mal geschrieben habe, befinde ich mich als Künstler auf einer interessanten Reise. Ich habe viele weitere Songs für ein internationales und mehrsprachiges Jazz-Repertoire recherchiert und zusammengestellt. Mein Fokus hat sich im Laufe der letzten Jahre verändert. Aus einem Gruppenprojekt wurde mehr oder weniger ein Soloprojekt und der Name des ursprünglichen Projekts wurde zum Titel meines 2016er Albums: Ipanema Lounge.
Waters of March ist zu einem festen Bestandteil meines Repertoires geworden und inzwischen habe ich dieses Lied an verschiedenen Orten, mit verschiedenen Musikern und in verschiedenen Stimmungen aufgeführt. Mehr und mehr ist es zu diesem magischen Jazz-Song geworden, der wie ein Traumfänger wirkt, mehr noch, wie ein poetischer Nachrichtenmelder! Wie kurz nach den Anschlägen des Boston-Marathons in 2013 habe ich mich beim Singen fast an den Zeilen verschluckt: “The foot, the ground, the flesh and the bone, the beat of the road, a sling-shot stone…” (“Der Fuß, der Boden, das Fleisch und die Knochen, der Schlag der Straße, ein geschleuderter Stein). Wenn es regnet, denke ich häufig, “a drip, a drop…”.
Es wird auch in Zukunft noch viele Geschichten geben, auf deren Reise ich durch diesen Songs mitgenommen werde. Es wird Landschaften geben, die ich aufgrund eines assoziativen Inhalts dieses Liedes und seines permanenten poetischen Zustands einer immer-fließenden Wandlung, aufsuchen werde.
Und hier ist meine Aufnahme von Waters of March:
…und hier eine ganze playlist mit sehr vielen Variationen von Águas De Março: